· 

Lieber Spielen als Funktionieren

Georg kommt mit Henne „Melly“ am Arm auf uns zu und berichtet begeistert von den Eiern, auf denen Melly brütet. Er hat sie gerade mit einer Schierlampe untersucht und weiß daher, dass alle befruchtet und nach wie vor lebendig sind. In zwei Tagen müsste es so weit sein. Georg kennt sich gut mit Hühnern aus. Seit seinem 10. Lebensjahr sind Hühner sein liebstes Steckenpferd. Er mistet wöchentlich den Stall aus, betreut die Hühnerdamen liebevoll mit Streicheleinheiten und frischem Bio-Futter, begutachtet regelmäßig das Gehege und macht sich schlau über ursprüngliche Hühnerrassen und deren artgerechten Pflege. Er gibt sogar Führungen und lädt regelmäßig schriftlich zum Eierkauf ein. All dies ist mit einem beträchtlichen Arbeitseinsatz, Konsequenz und Verlässlichkeit verbunden. Sich schmutzig zu machen und bei der Arbeit zu schwitzen gehört genauso dazu wie kognitives Lernen beim Studieren von Fachbüchern oder beim Formulieren von E-Mail-Texten. Das alles macht Georg freiwillig und mit Begeisterung. Ich würde sagen, Georg setzt das spielerische Lebensprinzip um, wie alle Menschen, die ihrem Hobby frönen oder jene Glücklichen, die ihre Berufung zum Beruf gemacht haben. Spielende Kinder tun nichts anderes. Spielen ist von Geburt an die beste Möglichkeit, auf gesunde Art zu persönlichen Höchstleistungen aufzulaufen, sich dabei selbst zu spüren und Zufriedenheit zu erlangen. Es dient dem persönlichen Wachstum und ist gleichzeitig eine Quelle der Freude.

 

Irgendwann wird dem Spiel der Raum entzogen und es muss den Platz frei machen, damit das Kind seine schulischen Pflichten erfüllen kann. Das traditionelle Schulsystem bietet ihm nicht die Freiheit, ungestört seinen eigenen Interessen zu folgen. Auch wenn viele empathische und stark engagierte Lehrer*innen und Eltern, die ihr Kind bedingungslos lieben, Gutes bewirken und Heilsames vollbringen, werden sie kaum verhindern, dass Kinder im System an festgelegten Normen gemessen werden und sich ihnen mehr oder weniger anpassen müssen. Kaum jemand kann sich dem Einfluss der Leistungsgesellschaft völlig entziehen. Dennoch haben wir die Möglichkeit, für uns selbst und für unsere Kinder Freiräume zu schaffen.

 

Alle Eltern wünschen ihren Kindern, dass sie glückliche Menschen werden und geben dafür ihr Bestmögliches. Davon bin ich überzeugt. Die Frage stellt sich mir nur, worin Glück definiert ist? Garantiert es das seelische und körperliche Wohlbefinden eines Menschen, wenn er als Kind dahingehend gefördert wird, möglichst viel Leistung zu erbringen und reibungslos in der westlichen Gesellschaft zu funktionieren? Bedeutet Glück nicht vielmehr ganz schlicht zufrieden mit sich selbst und erfüllt vom eigenen Tun und Schaffen zu sein? 

 

Für mich ist es ein falscher, wenn auch gut gemeinter Zugang, Kinder blind darauf trainieren, möglichst viel zu lernen, anstatt ihre wahren Interessen und Begabungen zu fördern. „Spielen anstatt zu funktionieren“ ist mein Motto, nicht

deswegen, weil ich gegen Leistung bin, sondern weil permanenter Leistungsdruck auf die Dauer seelisch oder körperlich krank macht.

Kinder und Jugendliche leiden heutzutage mehr und mehr unter Stress und hohen Leistungsansprüchen. Andererseits bleiben womöglich manche ihre Talente brach liegen, weil sie keinen Raum dafür erhalten, jene schlummernden Fähigkeiten hervorzulocken, für die sie von ihrer eigenen Natur her Interesse und Begabung mitgebracht hätten. Beides fühlt sich schmerzvoll an: Sowohl funktionieren zu müssen, als auch das zutiefst Eigene nicht leben zu dürfen.

Ist es das, was wir uns selbst und unseren Kindern wünschen?

 

Es ist ein naturgegebenes Bedürfnis des Menschen, schöpferisch tätig zu sein und dabei über die eigenen Grenzen hinauszuwachsen. Leistung und Lernen widersprechen dem nicht. Doch braucht es dafür es nicht Druck und Anpassung an genormte Schienen, sondern die Möglichkeit, seine Einzigartigkeit in bestmöglicher Form zu leben. Jeder Mensch hat der Welt enorm viel zu geben, wenn er seine individuellen Potenziale zur Entfaltung bringen kann. Im freien Spiel setzen Kinder genau dies von Natur aus um.

Spielen macht klug und glücklich, weil Kinder dabei ihren Interessen und Neigungen folgen und sich intuitiv die Latte so hochlegen, dass sie weder über- noch unterfordert sind. Manches können wir nicht ändern, doch wir können den Druck rausnehmen, indem wir selbst gelassener werden. Wenn wir unseren kleinen und größeren Kindern ermöglichen, möglichst oft ungestört und frei zu spielen, dann schenken wir ihnen ein Fundament, auf das sie ein Leben lang aufbauen können.

 

Für das Kind ist das Spiel seine Arbeit.

Für den Menschen, der seine Berufung lebt, wird die Arbeit zum Spiel.

 

PS: Georg ist heute 13 1/2 Jahre alt und hat inzwischen mit seinem Freund einen YouTube Kanal eröffnet, auf dem er eigene Hühnervideos veröffentlicht. Hier ist der Link dazu: Die Hühnerprofis - YouTube

Kommentar schreiben

Kommentare: 1
  • #1

    Stefanie Schauer (Samstag, 11 Dezember 2021 14:49)

    Liebe Heidi,
    ich fand den neuen Blogartikel wieder total interessant zu lesen. So viele wichtige Informationen, beispielsweise für mich als Mutter, kann ich mir hier mitnehmen!
    Ich danke dir für deine wertvolle Arbeit und den Austausch!
    Liebe Grüße & alles Gute!

Kontakt

 

Heide Maria Rossak

Oberbreitsach 7

4906 Eberschwang

+ 43 650 9821895

kontakt@spielendsein.at

 

        Mein Repertoire

            

           Online-Vorträge

           Buch "Sinnvolles Spielzeug"

  

           Schauspiel / Lesungen


Für das Kind ist das Spiel seine Arbeit.

Für den Menschen, der seine Berufung lebt, wird die Arbeit zum Spiel.